Christian Wulff: Wir befinden uns im STURM
CHRISTIAN WULFF Der Bundespräsident a. D. äußert sich erstmals öffentlich zur Flüchtlingskrise
und stellt sich voll hinter die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel
Europa steht politisch vor einer Zerreißprobe – was hauptsächlich an der Flüchtlingskrise liegt. Die
europäischen Regierungen konnten sich bislang nicht auf einen gemeinsamen Kurs einigen. Auch in
Deutschland streiten sich die Vertreter der politischen Parteien über den richtigen Umgang mit den
mehr als 1,2 Mio. Frauen, Männern und Kindern, die seit 2015 als Flüchtlinge ins Land gekommen
sind.
„Wir schaffen das!“, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel, 61 (CDU). Sie steht deshalb so massiv unter
Druck wie nie zuvor in ihrer elfjährigen Amtszeit. Es gibt viel öffentlichen Zuspruch für ihre sogenannte
Willkommenspolitik für Flüchtlinge. Es gibt aber auch jede Menge Protest, sogar aus den eigenen
Reihen.
Der frühere Bundespräsident Christian Wulff, 56, hielt sich bislang in der Flüchtlingsdebatte mit
Interview-Äußerungen eher zurück. Als BUNTE ihn vor wenigen Tagen in München trifft, reden wir
über Europa, die Flüchtlingsproblematik und seine konstante Nähe zu Angela Merkel. An diesem
Abend hält er auf der Wirtschafts-Gala „Best Brands – das deutsche Markenranking“ (siehe auch Seite
105) die Eröffnungsrede. Sein Thema vor 600 Gästen: „Europa – als Marke stark unter Druck“.
Gut 45 Minuten redet der Bundespräsident a. D. frei und voller Geist und Witz. Das Publikum ist
begeistert. Er spricht Probleme offen an, macht aber auch Mut für die Zukunft Europas. „Die Ängste
der Menschen sind rational weitgehend nicht zu erklären. Zu Furcht und zum Trübsalblasen haben wir
in Europa keinen Grund“, sagt er.
Das politische Vermächtnis von Christian Wulff ist ganz klar der prägende Satz, den er im Jahr 2010 in
einer Rede zum Tag der Deutschen Einheit sagte: „Auch der Islam gehört zu Deutschland.“ Zu dieser
Äußerung stehe er bis heute, sagt Christian Wulff im BUNTE-Gespräch.
Würden Sie Ihren berühmten Satz auch vor dem aktuellen Hintergrund der Flüchtlingsproblematik
sagen?
Absolut. Es ist eine zivilisatorische Errungenschaft, dass jeder in unserem Land glauben darf, was er
will, und niemand glauben muss. Millionen zu Deutschen gewordene Muslime gehören mit ihrer
Religion zu unserem Land dazu. Die Angst vor dem Islam ist unbegründet, wenn wir unsere Werte
vertreten und verteidigen. Dazu gehört die Menschenwürde eines jeden, die Gleichheit von Mann und
Frau, die Grundfreiheiten wie Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit. Das habe ich übrigens auch in
meiner Rede am 3. Oktober 2010 gesagt. Wir müssen die Extremisten, von innen und außen,
entschlossen bekämpfen und dürfen nicht unsere Grundordnung ändern. Insofern beeinflusst der
Islam weniger Deutschland, als dass wir die Muslime beeinflussen. Sie lernen ein Leben in Freiheit
und Sicherheit zu schätzen, und die meisten werden dann auch zu Verfassungspatrioten, die unser
Land mit verteidigen. Davon bin ich überzeugt. In der Bundeswehr, bei der Polizei und in vielen
Positionen erleben wir dies schon täglich.
Weshalb ist es im 21. Jahrhundert überhaupt so schwierig, Christen und Muslime friedlich zu
vereinen?
Wir müssen dem Islam helfen, Radikalisierung und Fundamentalismus Herr zu werden. Zum Beispiel
durch islamische Theologen an unseren Universitäten, die in der Auslegung von Koran und Suren
forschen und lehren. Bei Integrationspolitik gehören zwei Dinge zusammen: Weltoffenheit einerseits
und klare Regeln, die für alle gelten, andererseits.
Die Kanzlerin wird gerade heftig kritisiert für ihren Satz: „Die Grenzen bleiben offen.“ Gibt es
überhaupt eine Alternative zu dieser Politik?
Die Lage in Europa ist ernst, weil die Probleme nicht mehr vor unserer Haustür sind, sondern in
unserem Land. Viele EU-Staaten verschließen einfach die Augen, schotten sich ab. Erfolgreich ist das
nicht. Europa kann nur gestärkt aus der Krise hervorgehen, wenn sich alle zusammenraufen und auf
die wirklich wichtigen Fragen konzentrieren: eine zielführende europäische Nachbarschaftspolitik zu
Russland, der Türkei und Afrika.
Stehen Sie hinter Angela Merkel?
Wir haben engen Kontakt. Angela Merkel kämpft für europäische Lösungen. Das ist absolut richtig und
notwendig. Sie verspricht nichts, was sie nicht halten kann. Wir befinden uns im Sturm, da braucht
man Kapitäne, Leadership, Felsen in der Brandung. Ich finde es beeindruckend, wie Angela Merkel zu
ihrer Überzeugung steht. Vor allem wohlfeile Antworten müssen jetzt vermieden werden. Der 81.
Spruch von Laotse lautet: „Wahre Worte sind nicht schön. Schöne Worte sind nicht wahr.“ Daran
sollten wir alle gelegentlich denken.
Haben Sie denn Mitleid mit der Bundeskanzlerin?
Sie geht ihren Weg bewusst, den europäischen Weg. Jean-Claude Juncker und Angela Merkel sind
wirkliche Europäer. Sie sind, genau wie ich, davon überzeugt, dass man die derzeitigen größten
Herausforderungen in der Welt nur gemeinsam lösen kann – oder gar nicht. Mit Nationalismus kann
man keine Probleme lösen. Einige Staaten Europas sollten ihre nationalen Töne nicht überziehen, weil
sie sonst nicht nur ihre Freunde enttäuschen.
Führende deutsche Politiker versu-chen gerade, die Partei Alternative für Deutschland
totzuschweigen. Wie sehen Sie das?
Es nutzt nichts, sie zu ignorieren. Man muss sich mit der AfD auseinandersetzen. Am einfachsten
verweist man auf die Gründer Hans-Olaf Henkel und Bernd Lucke. Beide sagen, es sei eine
rechtsextremistische Partei geworden. Wenn das die Gründer sagen, kann sich niemand, der sie
wählt, rausreden, er hätte das nicht gewusst.
Sind Sie froh, kein aktiver Politiker mehr zu sein, oder kribbelt es Ihnen in den Fingern angesichts der
derzeitigen schwierigen Lage?
Es ist überall spürbar, wie stark das Interesse der Menschen an Politik gewachsen ist. Das macht mir
bei vielen Veranstaltungen Mut. Es ändert sich schließlich nur etwas, wenn man etwas aktiv dafür tut.
Vor diesem Hintergrund bleibe ich ein politischer Mensch und nehme meine Verantwortung als
Altbundespräsident mit Freude wahr.
Wird Politik immer schwieriger?
Ich bin da demütig. 1946 gab es beispielsweise nur zwei wirklich fundamentale Fragen, die die
Menschen beschäftigten: Wie erreichen wir, dass niemand verhungert oder erfriert? Wenn diese
elementaren Fragen damals zu lösen waren, dann sind unsere Fragen in Europa heute doch eher
klein dagegen. Von den zehn Ländern mit den meisten Flüchtlingen ist übrigens kein einziges in
Europa: Jordanien und Libanon haben mit je rund fünf Millionen Einwohnern jeweils um die 1,4
Millionen Flüchtlinge aufgenommen, die Türkei 2,5 Millionen. Da sollten drei Millionen Flüchtlinge in
Europa mit seinen 500 Millionen Einwohnern durch gemeinsame Kraftanstrengung zu bewältigen sein.
Viele Flüchtlinge werden später auch ihr Heimatland wieder aufbauen.
SEINEN ISLAM-SATZ WÜRDE ER HEUTE WIEDER SO SAGEN
Nationalismus löst keine PROBLEME
„DER ISLAM BEEINFLUSST WENIGER DEUTSCHLAND, ALS DASS WIR DIE MUSLIME
BEEINFLUSSEN“
Tanja May
BÜHNEN-PROFI Bundespräsident a. D. Christian Wulff begeistert mit seiner Rede auf der „Best
Brands“-Gala am 17. Februar im „Bayerischen Hof“ in München
BABIRAD PICTURE
BASKETBALL-FANS Christian und Bettina Wulff beim Bankett des FC-Bayern-Basketball am 19.
Februar 2016
NITSCHKE S. BRAUER PHOTOS, DPA BILDFUNK
ER KÜMMERT SICH Christian Wulff mit den Flüchtlingen und Stipendiaten Anas Beirakdar (M.) und
Deemah Tesare bei der Gala des Mentoren- programms „Geh Deinen Weg“ von Deutsche Telekom
und Edeka am 11. Februar in Berlin
„Die Ängste sind weitgehend nicht zu erklären. Zu Furcht und zum Trübsalblasen haben wir in Europa
keinen Grund“
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BU: BÜHNEN-PROFI Bundespräsident a. D. Christian Wulff begeistert mit seiner Rede auf der „Best
Brands“-Gala am 17. Februar im „Bayerischen Hof“ in München
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BU: BASKETBALL-FANS Christian und Bettina Wulff beim Bankett des FC-Bayern-Basketball am 19.
Februar 2016
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und Deemah Tesare bei der Gala des Mentoren- programms „Geh Deinen Weg“ von Deutsche
Telekom und Edeka am 11. Februar in Berlin